woensdag 4 juli 2018

Das Jahrhundert Berlins: Eine Stadt in der Literatur. Hrsg. von JATTIE ENKLAAR und HANS ESTER. Amsterdam, Atlanta/GA: Rodopi 2000 (Duitse Kroniek, Bd. 50), 298 S. [2001]

Die niederländische Zeitschrift Duitse Kroniek erschien zum ersten Mal im Jahre 1948. Seit 1994 erscheint sie jedoch nicht mehr als richtiges Periodikum sondern als Jahrbuch, das jeweils einem bestimmten Thema gewidmet ist. Als 50. Band der Duitse Kroniek erschien ein Heft mit Beitragen zum Thema ,Berlin im 20. Jahrhundert‘.
Der interessanteste Beitrag zu Das Jahrhundert Berlins hat nichts mit dem Thema sondern mit dem Jubiläum der Duitse Kroniek zu tun: Guillaume van Gemert beschreibt in seinem Artikel ,,Von Reeducation zum Wechseltausch. Ein Rückblick auf ein halbes Jahrhundert niederländisch-deutscher Kulturvermittlung aus Anlaß des 50. Jahrgangs der Duitse Kroniek‘ (S. 270-287) die Geschichte der Zeitschrift seit der Gründung als Mitteilungsblatt der ,Coördinatiecommissie voor Culturele Betrekkingen met Duitsland‘ (CCCD), oder, auf Deutsch, ,Koordinationsausschuß für Kulturbeziehungen mit Deutschland‘. Dieser Dachverband von Stiftungen, Kommissionen usw., die sich um die Wiederherstellung der deutsch-niederländischen Beziehungen nach dem Ende des 2. Weltkrieges bemühten, war 1947 gegründet worden. Van Gemert gibt eine detaillierte Übersicht über Redaktionsmitglieder, Verleger, Inhalt und natürlich ,Tendenz‘ der Duitse Kroniek, die ursprünglich eine aktuelle, politische und wirtschaftliche Orientierung hatte und sich im Lauf der Zeit mehr und mehr kulturellen, literarischen und philosophischen Themen widmete. Seit Mitte der fünfziger Jahre kamen Mitarbeiter und Redaktionsmitglieder aus dem Kreis der 1952 gegründeten ,Genootschap Nederland-Duitsland‘, die die Stelle der aufgelösten CCCD einnahm, ohne daß die Duitse Kroniek zum Organ dieser Gesellschaft wurde. In seinem ausgezeichnet dokumentierten Beitrag zeigt Van Gemert wie bis heute vor allem literarische, aber auch philosophische und kulturhistorische Themen die Beiträge in der Duitse Kroniek bestimmen, wobei die niederländisch-deutschen Beziehungen immer eine große Rolle spielen. Das zeigt sich ebenfalls in der Wahl der Mitarbeiter, die zum Teil an niederländischen Universitäten arbeiten. Auch in der vorliegenden Publikation ist dies der Fall.
Was fällt einer Redaktion ein, wenn sie einen Band zum Thema ,Berlin im 20. Jahrhundert‘ vorbereitet? Zunächst merkwürdigerweise ein Autor aus dem 19. Jahrhundert, denn der erste Beitrag, von einem der Herausgeber des Bandes, Hans Ester, heißt ,,Theodor Fontane und der Berliner Roman“ (S. 7-16). Es ist ein solider aber kaum aufregender Artikel eines Kenners. Und so kann man auch die meisten Beiträge in diesem Band charakterisieren. Leider sind es fast nur die auf der Hand liegenden Autoren und Themen, die uns vorgeführt werden: Piscator und Brecht (Sjaak Onderdelinden, S. 33-50), Döblins Berlin Alexanderplatz (Matthias Prangel, S. 51-86), Plenzdorfs Die neuen Leiden des jungen W. (Klaus F. Gille, S. 131-146), Christa Wolfs Der geteilte Himmel (Theodor Kramer, S. 187-202), Peter Schneiders Mauer-Bücher (Guillaume van Gemert, S. 203-222), ,,Die Stadt Berlin in der expressionistischen Lyrik“ (Jattie Enklaar, S. 17-32) und ,,Die Berliner Briefe von Alfred Kerr“ (Hans Ester, S. 267-270 – eher eine Rezension als ein Aufsatz übrigens).
Nur wenige Beiträger haben sich etwas mehr Mühe gemacht und sich nicht ausschließlich auf altbekannte Themen und auf Primär- und Sekundärliteratur beschränkt. Zum Beispiel Kerstin Schoor, die in ihrem Beitrag ,,Vom literarischen Zentrum zum literarischen Ghetto: Literarische Berlin-Bilder jüdischer Autoren in Deutschland nach 1933“ (S. 93-116) aus der laufenden Forschung auch über weniger bekannte Personen und unter Benutzung von Nachlässen usw. berichtet. Godela Weiss-Sussex beschränkt sich ebenfalls nicht auf die Handbibliothek in ihrem Beitrag über den ,,Fontane des Kurfürstendamms“, den erst 1999 mit dem Anfang einer Gesamtedition aus der Halbvergessenheit hervorgeholten Georg Hermann (S. 69-91).
Einige Duitse Kroniek-Mitarbeiter tun sich schwer mit dem Thema. Maria Brosig entschuldigt sich zu Anfang ihres Beitrags ,,Ansichten eines Ortes oder auf der Suche nach Heimat in Leben und Werk von Brigitte Reimann“ (S. 223-242) eine Seite lang dafür, daß ihre Autorin nie Einwohnerin von Berlin war. Es kommen aber trotzdem einige interessante Passagen aus dem Werk der jungverstorbenen DDR-Schriftstellerin zum Vorschein, die zeigen, daß Berlin für sie so etwas wie ein literarischer Ort war. Heiner Müller war, im Gegensatz zu Brigitte Reimann, lange Jahre Einwohner von Berlin. Der Artikel, den Gerd Labroisse der Rezeption der Lyrik des 1995 verstorbenen DDR-Dramatikers widmet (S. 147-186), hat mit dem Thema Berlin jedoch nichts zu tun, genau wie ,,Hingehn im Enkel? Eine Interpretation der Gedichte Auf den jüdischen Händler A.S. I, II und III von Johannes Bobrowski“ von Hub Nijssen (S. 117-130). Auch dies sind solide Arbeiten, man spürt aber quasi die Frage der Redaktion darin: ,,Habt Ihr noch was liegen, uns fehlen noch fünfzig Seiten.“
Zwei Beitrage beschäftigen sich mit Niederländern in Berlin: Alexander von Bormann analysiert (S. 243-253) sehr interessant Cees Nootebooms Buch Berliner Notizen (1991, die niederländische Ausgabe Berlijnse notities erschien 1990). Dem anderen wichtigen niederländischen Schriftsteller und Künstler in Berlin, Armando, hätte man einen kompetenteren Autor gewünscht als Peter Delvaux (,,Armando in Berlin“, S. 255-265), denn dieser hat von Armando kaum eine Ahnung und verpackt seine Unwissenheit in gräßliche Sätze, die Haupt- nicht von Nebensachen unterscheiden können und die außerdem oft in merkwürdige Privatbetrachtungen entarten. (Man kennt diesen Stil übrigens aus den Delvaux-Publikationen der  letzten Jahre über Gerhart Hauptmann. (1) Fast jeder Satz dieses Beitrags ist als Beweis für die fehlende Qualität zitierbar. Schon der erste ist verblüffend: ,,Sein bürgerlicher Name ist so gut wie unbekannt und tut nichts zur Sache; er nennt sich Armando, und so kennt man ihn.“ Der richtige Name von Armando tut aber in einem doch wohl wissenschaftlich-informativ gemeinten Text etwas zur Sache!
Der witzigste Satz im Beitrag von Delvaux ist dieser: ,,1979 erhielt Armando [... ] ein Stipendium [... ], und so nahm er von der Veluwe aus, wohin er verzogen war (Ruurlo, Elsloo, Otterlo) seinen Wohnsitz in Berlin […]“ (S. 258, Auslassungen von mir, J.G.). Witzig daran ist, daß nur Otterlo in der Veluwe liegt, Ruurlo jedoch 60 Kilometer weiter östlich im ,,Achterhoek“ und Elsloos gibt es 160 Kilometer südlicher in der Provinz Limburg und 125 Kilometer weiter nördlich in der Provinz Friesland. Was denkt man sich denn bei solchen Mitteilungen? Und was denkt sich eine Redaktion, die solche Sachen stehen läßt? In seiner abschließenden Bemerkung ,,Zur Bibliographie“ (S. 264 -265) teilt Delvaux uns übrigens mit, jetzt anscheinend unter Benutzung eines Atlasses, daß der Ort Brou (wo mal eine Armando-Ausstellung stattgefunden hat), ,,südwestlich von Chartres“ liegt.
Delvaux reiht schülerhaft eine Zusammenfassung eines Armando-Textes an die andere, und das klingt dann so:

Gegner zweier totalitärer Regimes, erst des einen und dann des anderen, und aus Sibirien zurückgekehrt.
Verschiedenartige Erfahrungen in den Niederlanden und mit Niederländern, worunter auch dass jemand als Mitglied einer Baukompanie in Holland das Regime ablehnen lernte. Verwunderung darüber dass Niederländer zu Deutschen freundlicher werden wenn sie an ihnen verdienen können.
Und vieles andere.
Erstaunen und Trauer mehr als Empörung klingen an darüber dass die Folgegeneration von den damaligen Vorgängen gar nichts wissen und nichts hören und ohne Besinnen in den Tag hinein leben und reden will und die Freiheit, in der sie lebt, verachtet.


,,Und vieles andere“ – es ist unbegreiflich, daß eine Redaktion zu einem solchen Text eines Kollegen nicht ,,nein“ zu sagen wagt. 

(1) Antiker Mythos und Zeitgeschehen. Sinnstruktur und Zeitbezüge in Gerhart Hauptmanns Atriden-Tetralogie (Amsterdam 1992) und Leid soll lehren. Historische Zusammenhänge in Gerhart Hauptmanns Atriden-Tetralogie (Amsterdam 1994).

Eerder verschenen in Deutsche Bücher. Forum für Literatur (Berlijn), 31 (2001), afl. 4, p. 358-361, en hier ongewijzigd overgenomen. De plaatjes zijn door mij toegevoegd. Deutsche Bücher verscheen tot 2009, de Duitse Kroniek bestaat nog steeds.