Das Jahrhundert Berlins: Eine
Stadt in der Literatur. Hrsg. von JATTIE ENKLAAR und HANS ESTER. Amsterdam,
Atlanta/GA: Rodopi 2000 (Duitse Kroniek, Bd. 50), 298 S. [2001]
Die niederländische Zeitschrift Duitse Kroniek erschien zum ersten Mal im Jahre 1948. Seit 1994
erscheint sie jedoch nicht mehr als richtiges Periodikum sondern als Jahrbuch,
das jeweils einem bestimmten Thema gewidmet ist. Als 50. Band der Duitse Kroniek erschien ein Heft mit
Beitragen zum Thema ,Berlin im 20. Jahrhundert‘.
Der interessanteste Beitrag zu Das Jahrhundert Berlins hat nichts mit dem Thema sondern mit dem Jubiläum
der Duitse Kroniek zu tun: Guillaume
van Gemert beschreibt in seinem Artikel ,,Von Reeducation zum Wechseltausch.
Ein Rückblick auf ein halbes Jahrhundert niederländisch-deutscher
Kulturvermittlung aus Anlaß des 50. Jahrgangs der Duitse Kroniek‘ (S. 270-287)
die Geschichte der Zeitschrift seit der Gründung als Mitteilungsblatt der ,Coördinatiecommissie
voor Culturele Betrekkingen met Duitsland‘ (CCCD), oder, auf Deutsch,
,Koordinationsausschuß für Kulturbeziehungen mit Deutschland‘. Dieser
Dachverband von Stiftungen, Kommissionen usw., die sich um die
Wiederherstellung der deutsch-niederländischen Beziehungen nach dem Ende des 2.
Weltkrieges bemühten, war 1947 gegründet worden. Van Gemert gibt eine
detaillierte Übersicht über Redaktionsmitglieder, Verleger, Inhalt und natürlich
,Tendenz‘ der Duitse Kroniek, die
ursprünglich eine aktuelle, politische und wirtschaftliche Orientierung hatte
und sich im Lauf der Zeit mehr und mehr kulturellen, literarischen und
philosophischen Themen widmete. Seit Mitte der fünfziger Jahre kamen
Mitarbeiter und Redaktionsmitglieder aus dem Kreis der 1952 gegründeten
,Genootschap Nederland-Duitsland‘, die die Stelle der aufgelösten CCCD einnahm,
ohne daß die Duitse Kroniek zum Organ
dieser Gesellschaft wurde. In seinem ausgezeichnet dokumentierten Beitrag zeigt
Van Gemert wie bis heute vor allem literarische, aber auch philosophische und
kulturhistorische Themen die Beiträge in der Duitse Kroniek bestimmen, wobei die niederländisch-deutschen
Beziehungen immer eine große Rolle spielen. Das zeigt sich ebenfalls in der
Wahl der Mitarbeiter, die zum Teil an niederländischen Universitäten arbeiten.
Auch in der vorliegenden Publikation ist dies der Fall.
Was fällt einer Redaktion ein, wenn sie einen Band zum
Thema ,Berlin im 20. Jahrhundert‘ vorbereitet? Zunächst merkwürdigerweise ein
Autor aus dem 19. Jahrhundert, denn der erste Beitrag, von einem der
Herausgeber des Bandes, Hans Ester, heißt ,,Theodor Fontane und der Berliner Roman“
(S. 7-16). Es ist ein solider aber kaum aufregender Artikel eines Kenners. Und
so kann man auch die meisten Beiträge in diesem Band charakterisieren. Leider
sind es fast nur die auf der Hand liegenden Autoren und Themen, die uns vorgeführt
werden: Piscator und Brecht (Sjaak Onderdelinden, S. 33-50), Döblins Berlin Alexanderplatz (Matthias Prangel,
S. 51-86), Plenzdorfs Die neuen Leiden
des jungen W. (Klaus F. Gille, S. 131-146), Christa Wolfs Der geteilte Himmel (Theodor Kramer, S.
187-202), Peter Schneiders Mauer-Bücher (Guillaume van Gemert, S. 203-222),
,,Die Stadt Berlin in der expressionistischen Lyrik“ (Jattie Enklaar, S. 17-32)
und ,,Die Berliner Briefe von Alfred Kerr“ (Hans Ester, S. 267-270 – eher eine
Rezension als ein Aufsatz übrigens).
Nur wenige Beiträger haben sich etwas mehr Mühe gemacht
und sich nicht ausschließlich auf altbekannte Themen und auf Primär- und Sekundärliteratur
beschränkt. Zum Beispiel Kerstin Schoor, die in ihrem Beitrag ,,Vom literarischen
Zentrum zum literarischen Ghetto: Literarische Berlin-Bilder jüdischer Autoren
in Deutschland nach 1933“ (S. 93-116) aus der laufenden Forschung auch über
weniger bekannte Personen und unter Benutzung von Nachlässen usw. berichtet.
Godela Weiss-Sussex beschränkt sich ebenfalls nicht auf die Handbibliothek in
ihrem Beitrag über den ,,Fontane des Kurfürstendamms“, den erst 1999 mit dem
Anfang einer Gesamtedition aus der Halbvergessenheit hervorgeholten Georg
Hermann (S. 69-91).
Einige Duitse Kroniek-Mitarbeiter
tun sich schwer mit dem Thema. Maria Brosig entschuldigt sich zu Anfang ihres
Beitrags ,,Ansichten eines Ortes oder auf der Suche nach Heimat in Leben und
Werk von Brigitte Reimann“ (S. 223-242) eine Seite lang dafür, daß ihre Autorin
nie Einwohnerin von Berlin war. Es kommen aber trotzdem einige interessante
Passagen aus dem Werk der jungverstorbenen DDR-Schriftstellerin zum Vorschein,
die zeigen, daß Berlin für sie so etwas wie ein literarischer Ort war. Heiner Müller
war, im Gegensatz zu Brigitte Reimann, lange Jahre Einwohner von Berlin. Der
Artikel, den Gerd Labroisse der Rezeption der Lyrik des 1995 verstorbenen
DDR-Dramatikers widmet (S. 147-186), hat mit dem Thema Berlin jedoch nichts zu
tun, genau wie ,,Hingehn im Enkel? Eine Interpretation der Gedichte Auf den jüdischen Händler A.S. I, II und III
von Johannes Bobrowski“ von Hub Nijssen (S. 117-130). Auch dies sind solide
Arbeiten, man spürt aber quasi die Frage der Redaktion darin: ,,Habt Ihr noch
was liegen, uns fehlen noch fünfzig Seiten.“
Zwei Beitrage beschäftigen sich mit Niederländern in
Berlin: Alexander von Bormann analysiert (S. 243-253) sehr interessant Cees
Nootebooms Buch Berliner Notizen
(1991, die niederländische Ausgabe Berlijnse
notities erschien 1990). Dem anderen wichtigen niederländischen
Schriftsteller und Künstler in Berlin, Armando, hätte man einen kompetenteren
Autor gewünscht als Peter Delvaux (,,Armando in Berlin“, S. 255-265), denn
dieser hat von Armando kaum eine Ahnung und verpackt seine Unwissenheit in gräßliche
Sätze, die Haupt- nicht von Nebensachen unterscheiden können und die außerdem
oft in merkwürdige Privatbetrachtungen entarten. (Man kennt diesen Stil übrigens
aus den Delvaux-Publikationen der letzten
Jahre über Gerhart Hauptmann. (1) Fast jeder Satz dieses Beitrags ist als
Beweis für die fehlende Qualität zitierbar. Schon der erste ist verblüffend:
,,Sein bürgerlicher Name ist so gut wie unbekannt und tut nichts zur Sache; er
nennt sich Armando, und so kennt man ihn.“ Der richtige Name von Armando tut
aber in einem doch wohl wissenschaftlich-informativ gemeinten Text etwas zur
Sache!
Der witzigste Satz im Beitrag von Delvaux ist dieser:
,,1979 erhielt Armando [... ] ein Stipendium [... ], und so nahm er von der
Veluwe aus, wohin er verzogen war (Ruurlo, Elsloo, Otterlo) seinen Wohnsitz in
Berlin […]“ (S. 258, Auslassungen von mir, J.G.). Witzig daran ist, daß nur
Otterlo in der Veluwe liegt, Ruurlo jedoch 60 Kilometer weiter östlich im
,,Achterhoek“ und Elsloos gibt es 160 Kilometer südlicher in der Provinz
Limburg und 125 Kilometer weiter nördlich in der Provinz Friesland. Was denkt
man sich denn bei solchen Mitteilungen? Und was denkt sich eine Redaktion, die
solche Sachen stehen läßt? In seiner abschließenden Bemerkung ,,Zur Bibliographie“
(S. 264 -265) teilt Delvaux uns übrigens mit, jetzt anscheinend unter Benutzung
eines Atlasses, daß der Ort Brou (wo mal eine Armando-Ausstellung stattgefunden
hat), ,,südwestlich von Chartres“ liegt.
Delvaux reiht schülerhaft eine Zusammenfassung eines
Armando-Textes an die andere, und das klingt dann so:
Gegner zweier
totalitärer Regimes, erst des einen und dann des anderen, und aus Sibirien zurückgekehrt.
Verschiedenartige
Erfahrungen in den Niederlanden und mit Niederländern, worunter auch dass
jemand als Mitglied einer Baukompanie in Holland das Regime ablehnen lernte.
Verwunderung darüber dass Niederländer zu Deutschen freundlicher werden wenn
sie an ihnen verdienen können.
Und vieles
andere.
Erstaunen und Trauer
mehr als Empörung klingen an darüber dass die Folgegeneration von den damaligen
Vorgängen gar nichts wissen und nichts hören und ohne Besinnen in den Tag
hinein leben und reden will und die Freiheit, in der sie lebt, verachtet.
,,Und vieles andere“ – es ist unbegreiflich, daß eine
Redaktion zu einem solchen Text eines Kollegen nicht ,,nein“ zu sagen wagt.
(1) Antiker Mythos und
Zeitgeschehen. Sinnstruktur und Zeitbezüge in Gerhart Hauptmanns
Atriden-Tetralogie (Amsterdam
1992) und Leid soll lehren. Historische Zusammenhänge
in Gerhart Hauptmanns Atriden-Tetralogie (Amsterdam 1994).
Eerder verschenen in Deutsche Bücher. Forum für Literatur
(Berlijn), 31 (2001), afl. 4, p. 358-361, en hier ongewijzigd overgenomen. De
plaatjes zijn door mij toegevoegd. Deutsche
Bücher verscheen tot 2009, de Duitse
Kroniek bestaat nog steeds.
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